Hallo,
wenn ich schon die Einzelkinder-können-nicht-warten-Theorie für falsch halte, dann brauche ich doch auch nicht extra entgegenzuwirken. Ich habe kein Einzelkind sondern zwei Jungs, von denen einer problemlos stundenlang warten kann und sich auch mal zur Seite schieben lässt, während der andere schon einen Kreischanfall bekommt, wenn er nur von weitem wo eine Warteschlange SIEHT. Mit dem Vorurteil "schlecht erzogen" muss ich immer wieder leben, vor allem von Menschen, die uns nicht kennen.
Durch seine Gehörlosigkeit grüßt mein jüngerer Sohn nicht und er geht trotz Aufforderung nicht weg, wenn er im Weg steht. Außerdem steigt er öfter mal unabsichtlich jemanden auf die Zehen (er sieht schlecht, verweigert aber die Brille) und merkt es - vermutlich autismusbedingt - nicht einmal. Und ich habe es satt, jedem, der sich da für bemüßigt hält, sich aufzuregen, sämtliche Diagnosen meines Sohnes auf die Nase zu binden. Denn mich nerven dann die wortreichen Entschuldigungen und vor allem der mitleidige Blick und das Bedauern des "armen Kindes". Daher kläre ich meistens gar nicht auf, was wirklich los ist.
Da mein Sohn selbst meistens gar nicht mitbekommt, dass er für "schlecht erzogen" gehalten wird, nehme ich die Sache eben auf mich. Ähnlich ist es bei meinem älteren Sohn. Durch seinen Asperger Autismus in Kombi mit ADHS fühlt er sich oft angegriffen und er hat eine sehr geringe Frustrationsschwelle. Eine Kleinigkeit reicht aus, um ihn aus der Fassung zu bringen und einen kurzen Schreikrampf auszulösen. Und er quatscht ständig alle möglichen (auch ihm fremden) Leute mit seinen Themen nieder, ob sie es nun hören wollen, oder nicht. Auch hier kommt natürlich wieder die Erziehung ins Spiel und ich bekomme ungefragt abwechselnd Vorwürfe und Tipps. Hier sage ich noch seltenes, was wirklich Sache ist. Denn einerseits halten viele Leute ADHS sowieso für "erfunden" und machen alles mögliche, was in der Verantwortung der Eltern liegt (Ernährung, Medienkonsum, mangelnde Bewegung) für die Auffälligkeiten verantwortlich. Und von Autismus haben die meisten so ein "Rain Man"-Bild im Kopf, dem mein Sohn natürlich nicht entspricht, und dann sehe ich mich in der Situation wieder, die Diagnosen meines Sohnes vor Leuten, die uns weder was angehen, noch sich wirklich für uns interessieren, rechtfertigen zu müssen.
Und all das könnte man, wären meine Jungs Einzelkinder, ganz locker darauf schieben
. Dabei waren sowohl mein Mann als auch ich Einzelkinder, und ich konnte (ähnlich meinem älteren Sohn) nie warten, mein Mann aber (wie der jüngere Sohn) ganz problemlos.
Ich habe auch (wie viele hier) öfter mal abgewartet und nicht eingegriffen. Aber ich musste trotzdem oft eingreifen, weil vor allem mein älterer Sohn immer wieder Phasen hatte, wo er sich (rein subjektiv) von irgendjemanden angegriffen oder ausgelacht gefühlt hat, und sich "rächen" wollte. Es gab auch Phasen (so im Alter von 5 Jahren), wo mein Sohn andere Kinder körperlich angegangen ist (geschubbst, angespuckt, getreten) und da konnte ich natürlich nicht einfach so zuschauen. Was ich in solchen Situationen (wo ich selbst ratlos war) am wenigsten brauchen konnte, waren Ätzer, die meine Erziehung in Frage gestellt haben, weil sie selbst ZUFÄLLIG Kinder hatten, mit denen sie in diese Lage nie gekommen sind. Ich habe auch so ein Kind, aber eben nur EINES von zweien.
Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)