Hallo Meine3!
Für mich passt deine Beschreibung auch deutlich mehr zu ADHS als zu Autismus. Nur schließt das eine das andere nicht aus. Bei meinem Sohn wurde ja der Autismus VOR der ADHS diagnostiziert - ich hießt es ehrlich gesagt anfangs für eine Fehldiagnose weil bei ihm auch viel mehr von den Auffälligkeiten zu ADHS gepasst hat. Außerdem hatten wir mit dem Bruder ja den Klischee-Autisten schlechthin zu Hause (kaum Blickkontakt, mathematische Ausnahmebegabung, nur da nötigste an Kommunikation, stundenlanges beschäftigen mit sich selbst, keine Rollenspiele,...). Ich konnte und wollte lange nicht glauben, dass bei zwei so unterschiedlichen Kindern dieselbe Störung dahinter stecken könnte.
Mittlerweile glaube ich, dass die ADHS meinen älteren Sohn deutlich AUFFÄLLIGER beeinträchtigt als sein Autismus. Da er kein grundsätzlich aggressives Kind ist und mittlerweile auch ein gewisses Maß an Anpassung erlernt hat, sind seine fehlenden sozialen Skills nicht so auffällig wie eben die niedrige Frustrationsschwelle, die Stimmungsschwankungen (die tatsächlich teilweise den autistischen Mißverständnissen geschuldet sind) sowie sein Umgang mit Situationen, die ihn überfordern (Reaktion: weinen, kreischen, schreien,...). All das ist mittlweile schon deutlich besser geworden, aber es ist eben für Außenstehende viel augenscheinlicher als z.B. sein nicht vorhandenes Gefühl für Nähe und Distanz. Klischeehaft glauben ja viele, Autisten würden generell keine körperliche Nähe zulassen. Tatsächlich haben viele Autisten ein Problem mit den sozialen Erwartungshaltungen was Nähe und Distanz betrifft. Von einem Kind wird erwartet, dass es die Großtante auch dann küsst, wenn ihr Gesicht voller Falten und Warzen ist, und dass es sich z.B. bei Verletzungen (körperlich oder psychisch) von Bezugspersonen trösten lässt. Bei vielen Autisten ist das anders. Aber das Distanzverhalten meines Sohnes ist "in die andere Richtung" falsch. Er quatscht ständig wildfremde Leute mit seinen Themen voll, ohne zu merken, dass dies nicht erwünscht ist und oft nervt. Oder er umarmt spontan einen fremden Papa auf dem Spielplatz, weil ihm der sympathisch ist. Es kann auch sein, dass er in der U-Bahn höflich eine alte Frau anspricht, ob sie nicht aufstehen will, um ihm ihren Sitzplatz frei zu machen...

. So ein Verhalten ist natürlich befremdlich, wird aber von den wenigsten Menschen mit Autismus in Verbindung gebracht, weil das Klischee eben anders ist.
Insgesamt war das ADHS-Verhalten meines Sohnes lange Zeit DEUTLICH auffälliger "nach außen" als sein autistisches Verhalten. Erst in letzter Zeit verschiebt sich das etwas in die andere Richtung. Weil es eben "süß" ist, wenn ein klein gewachsener Fünfjähriger fremde Leute umarmt, aber nicht, wenn das ein 10jähriger tut. Weil es leicht auf Trotzphase oder Erziehung geschoben werden kann, wenn ein 5jähriges Kind beim Anblick einer Warteschlange einen Schreikrampf bekommt, als wenn dieselbe Reaktion von einem doppelt so alten Kind kommt. Und es ist auch süß, wenn ein Kindergartenkind von Dinos erzählt, nicht aber, wenn ein 10jähriger versucht, andere für die Entstehung der schwarzen Löcher zu begeistern.
Das soll absolut nicht heißen, das ich bei deinem Sohn Autismus vermute. Ich beziehe mich nur auf deinen Satz, dass alles, was du aus eigener Erfahrung (erworbenes Wissen und praktische Erfahrung mit betroffenen Menschen) weiß, auf deine Sohn NICHT zutrifft. Vor allem deine Aufzählung der Auffälligkeiten autistischer Kinder finde ich als Autistenmama ziemlich an den Haaren herbeigezogen.
Meine Jungs sind klare Rechts-, bzw. Linkshändler, die Händigkeit war schon deutlich vor dem 1. Geburtstag festgelegt.
Mein jüngerer Sohn hatte eine verzögerte motorische Entwicklung, die aber rückblickend mehr der Gehörlosigkeit geschuldet war, als dem Autismus. Viele Gehörlose haben im Kleinkindalter Gleichgewichtsprobleme, weil sich das Gleichgewichtsorgan ja im Ohr befindet und die Kinder durch ihr fehlendes Hörvermögen als Babys deutlich weniger Kopfbewegungen machen (drehen zur Geräuschquelle), was zu Folge hat, dass es länger braucht, bis sich der Gleichgewichtssinn entwickelt. Mein älterer Sohn war motorisch als Baby und Kleinkind dagegen extrem fit.
Angst und Unsicherheit beim Klettern und schaukeln hatten beide Jungs nicht, wobei mein jüngerer Sohn durch die gerade erklärten Gründe länger gebraucht hat, das zu erlernen. Mein älterer Sohn hat (wie ich) Höhenangst, so dass er beim Klettern IN GROSSER HÖHE unsicher ist, auch wenn er gut gesichert ist. Aber das hat mMn nichts mit dem Autismus zu tun.
Sozialverhalten: mein jüngerer Sohn war sich lange "selbst genug" und hat aktiv keinen Kontakt zu anderen Kindern gesucht. Er war aber immer schon sehr interessiert an Gefühlen aller Art und tröstet z.B. andere Kinder oder Erwachsene sofort, wenn sie traurig wirken oder sich verletzt haben. Mittlerweile hat er aber im Internat sogar einen Freund gefunden, mit dem er gemeinsam spielt. Der Freund ist ebenfalls gehörlos und autistisch.
Mein älterer Sohn hätte manchmal gerne Freunde, in der Situation werden ihm andere Kinder aber schnell "zu viel". Er merkt nicht, wenn jemand traurig ist und tröstet auch nicht, wenn sich wer verletzt hat. Wenn man ihn aufmerksam macht, dass z.B. ein Mädchen weint, erfindet er abstruse Theorien für die mögliche Ursache, z.B. dass die Lehrerin vor 3 Wochen mit dem Mädchen geschimpft hat oder dass sie Hunger hat.... Freunde hat er keine.
Konzentration und Aufmerksamkeit: Mein jüngerer Sohn kann sich sehr gut konzentrieren und hat für sein Alter eine mindestens durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne. Mein älterer Sohn hat Konzentrationsschwierigkeiten wenn was von ihm VERLANGT wird, kann sich aber gut auf Dinge konzentrieren, die ihn interessieren (ähnlich wie ich

). Wobei ich selbst extreme Konzentrationsschwierigkeiten habe, aber im Laufe der Jahre habe ich Strategien entwickelt, damit so umzugehen, dass es niemand merkt

.
Behinderung der schulischen Leistungsfähigkeit: liegt bei beiden Kindern nicht vor! Wobei mein jüngerer Sohn bedingt durch die Gehörlosigkeit seine Probleme mit der deutschen Grammatik hat - aber das hat sicher nichts mit seinem Autismus zu tun.
Mangelnde Körperwahrnehmung, falsches Abschätzen von Gefahrenquellen, häufiges stolpern und fallen: Ist bei beiden Jungs nicht der Fall! Man kann als "grobmotorische Schwäche" sehen, dass mein älterer Sohn nicht gut Ball spielen kann und es auch nicht mag. Rad fahren, Rollschuh laufen, Eislaufen, klettern, schwimmen, Schi fahren, Trampolin springen.., ist hingegen kein Problem (nicht auf hohem Niveau, aber durchaus altersgemäß). Auch mein jüngerer Sohn hat seine motorische Entwicklungsverzögerung mittlerweile aufgeholt und kann so ziemlich alles, was gleichaltrige gesunde Kinder können.
Feinmotorisch waren und sind beide Kinder mindestens durchschnittlich, eher etwas besser. Umgang mit Schere, Besteck oder Werkzeug war nie ein Problem. Beide können auch gut zeichnen und schreiben.
Sprachliche Entwicklung: war beim älteren Sohn sehr flott und sehr gut. Der jüngere Sohn hingegen war sprachlich auch in Gebärdensprache lang deutlich entwicklungsverzögert.
Geräuschempfindlichkeit: hat mein älterer Sohn nicht (und der jüngere erst recht nicht

)
Insgesamt sind alle diese Dinge, die laut deiner Liste auf Autisten zutreffen sollen, sehr klischeehaft. Vor allem aber wird da alles, was irgendwie mit Autismus zu tun hat, "vermischt". Gerade Asperger Autisten sind oft sprachlich extrem fit und schulisch sehr leistungsfähig. Hingegen sind Probleme in der Sprachentwicklung und vor allem der aktiven Sprache bei frühkindlichen Autisten (wo meistens auch eine Intelligenzminderung vorliegt) häufig, ebenso wie Teilleistungsschwächen und die beschriebenen motorischen Schwierigkeiten.
Wenn ich nach dieser Liste gehen würde wären meine Jungs beide keine Autisten.
Trotzdem sehe ich auch ich bei der Beschreibung deines Sohn viel mehr ADHS-Anzeichen. Vor allem aber verstehe ich nicht, warum die riesige Diskrepanz zwischen der Verarbeitungsgeschwindigkeit und anderen Werten im IQ-Test von eurem Fachmann NICHT als Zeichen einer Wahrnehmunsttörung gesehen wird. Klar, bei den meisten ADHS-Kindern sind die Werte in der VG noch deutlich schlechter, weil die Kombi ADHS und Hochbegabung ziemlich selten ist, siehe hier:
https://www.adhspedia.de/wiki/Hochbegabung_und_ADHS
Vermutlich ist die Kombi Hochbegabung und Autismus auch nicht häufiger (wer andere Quellen hat: her damit

), entspricht aber mehr dem Klischee. Das ADHS-Kind geht laut dem Klischee über Tische und Bänke. Das autistische Kind ist das in seiner eigenen Welt gefangene Mathe-Genie.
Was ich damit sagen will: der Ausschluss von ADHS bei deinem Sohn könnte eine Fehldiagnose sein, weil der Profi bisher fast nur mit nicht-hochbegabten ADHS-Kindern zu tun hatte und die Kompensationsstrategien kluger ADHS-ler unterschätzt. Ist meine Meinung, muss aber natürlich nicht stimmen.
Ergotherapie ist auf jeden Fall eine gute Sache. Da wird auch gleich die sensorische Integration gestärkt. Ein guter Ergotherapeut kann bei regelmäßiger Therapie sehr viel bewirken war Körper- und Selbstwahrnehmung betrifft. Das ist eine der wenige Maßnahmen, die man sofort setzen kann, ohne dabei viel falsch machen zu können. Bei meinem Sohn hatte außerdem Neurofeedback eine merkbare positive Wirkung. Das ist aber (zumindest hier in Österreich) privat zu bezahlen.
Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)