Hochbegabung: Umweltfaktoren oder Genetik?

ganz allgemein zu Hochbegabung und IQ, theoretisch und praktisch
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Gipfel
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Hochbegabung: Umweltfaktoren oder Genetik?

Beitrag von Gipfel »

S.g. Damen und Herren,

begründet sich die Fähigkeit, in einem spezifischen Bereich Höchstleistungen zu erzielen, lediglich aus stundenlanger Übung, also biologisch gesprochen, der Beeinflussung der neuronalen Plastizität, oder aber ist es nicht vielmehr bereits genetisch determiniert, in einem Bereich besonders talentiert zu sein?

Existieren "Wunderkinder", die von Geburt an über spezifische Begabungen verfügen, oder besteht das wahre "Talent" eines Genies nicht vielmehr in seiner Opferbereitschaft, mit großem Einsatz aktiv zu lernen, sowie einer entsprechenden Prioritätensetzung in seinem Leben?

Es gibt hierzu die berühmte 10.000-Stunden-Regel (vgl. Malcolm Gladwell, Outliers), die besagt, dass jeder, der sich 10.000 h lang mit einer Sache beschäftigt, die nötige Kenntnisse erlangen kann, um in diesem Bereich zu den besten der Welt zu zählen. Nach dieser Regel würde somit jeder Mensch, sofern er bereit ist, einen Großteil seines Lebens nur einer einzigen Sache zu widmen, hierin brillieren können.

Ist eine Hochbegabung in einem spezifischen Metier, sei es nun Mathematik, Kunst oder Musik, somit das Resultat einer rigiden Verfolgung der persönlichen Ziele?

Steckt in jedem Menschen ein potentielle "Wunderkinder" und lediglich zu "faul", um das Potential, dass in uns schlummert, adäquat auszuschöpfen?

MfG Gipfel
Rabaukenmama
Dauergast
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Registriert: So 8. Dez 2013, 21:24

Re: Hochbegabung: Umweltfaktoren oder Genetik?

Beitrag von Rabaukenmama »

Die 10.000 Stunden Regel ist Quatsch! Die Spitze in Bereichen, wo es ums denken geht, ist mindestens so dünn wie beim Sport. Da kommt man weder mit "nur Genetik" noch mit "nur Umweltfaktoren" hin. Im Sport zeigen dass LäuferInnen aus Äthiopien und Kenja, die vom Körperbau und Anpassung gegenüber z.B. europäischen Läufern haben, jedoch TROTZDEM intensives Training benötigen, um an die Spitze zu kommen.

Der Hochbegabte kann ebensoviel oder wenig für seinen IQ wie der Blonde für seine Haarfarbe. Kleine Umweltfaktoren spielen sehr wohl bei der Entfaltung des maximalen IQ-Potentials mit. Wenn die Umweltbedingungen passen (angstfreie Umgebung, gute Sozialkontakte, ideale Förderung ohne Überforderung) kann sich der IQ bis zum persönlichen (genetisch festgelegtem) Maximum entwickeln, so wie sich die Haare eines blonden Menschen bei viel Sonneneinstrahlung noch ein bißchen aufhellen. Aber bei noch so viel Sonne wird kein Schwarzhaariger blond werden und keine durschnittlich begabter Mensch ein Genie.

Der IQ wird oft über- aber auch oft unter-schätzt. Ein hoher IQ ist keine "Leistung" (ebensowenig wie blonde Haare), er ist nur EINE von vielen Voraussetzungen, Leistung zu erbringen. Zusätzlich gehören Ehrgeiz, Motivation, Durchhaltevermögen, Resilienz, Zugang zu Informationen und ganz viele andere Faktoren dazu. Der geringste dieser Faktoren begrenzt die tatsächliche Leistung. Ein noch so hochbegabtes und motiviertes Kind wird keine Leistung erbringen wenn es keinen Zugung zu Bildung und Information hat. Ein hochbegabtes Kind mit besten schulischen Möglichkeiten wird es ohne Motivation und Durchhaltevermögen auch nicht weit bringen. Und ein hochmotiviertes, durchschnittlich begabtes Kind mit besten schulischen Möglichkeiten wird irgendwann durch das nicht-mehr-mitkommen begrenzt werden.

Nehmen wir 5 fiktive Personen mit einem durchscnittlichen IQ von 130 her. Der (fitkive) IQ setzt sich zu gleichen Teilen aus den Bereichen A, B, C und D zusammen. Die Teilbereiche sind bei den Personen unterschiedlich:

Person 1: IQ-Bereich A: 220/ Bereich B: 100, Bereich C: 100, Bereich D; 100
Person 2: IQ-Bereich A: 130/ Bereich B: 130, Bereich C: 130, Bereich D; 130
Person 3: IQ-Bereich A: 100/ Bereich B: 120, Bereich C: 140, Bereich D; 160
Person 4: IQ-Bereich A: 85/ Bereich B: 145, Bereich C: 145, Bereich D; 145
Person 5: IQ-Bereich A: 150/ Bereich B: 110, Bereich C: 150, Bereich D; 110

Welche dieser Personen wird in welchem Bereich brillieren?
Rein statistisch wohl Person 1 in Bereich A, Person 4 in Bereich B, Person 5 in Bereich C und Person 3 in Bereich D!
Tatsächlich hat jeder der fiktiven Personen in den anderen relevanten Bereichen (weiter oben aufgezählt) auch ihre individuellen Obergrenzen, Stärken und Schwächen. Daher kann man rein auf Grund des IQs genauso wenig Vorhersagen treffen wie auf Grund EINER für sich genommen anderen Voraussetzung. Wenn Person 4 hochmotivert ist, genau in Bereich A Höchstleistungen zu vollbringen und alles dafür tut, wird es ihr trotzdem nicht gelingen. Wenn Person 1 dieselbe Motivation für Bereich A aufbringt wird sie (sofern die anderen Voraussetzungen auch gegeben sind) aber ziemlich sicher in weit unter 10.000 Stunden an der Spitze sein.

Erfahrungsgemäß bringen die meisten Menschen die größte Motivation und Lernbereitschaft für Dinge auf, die sie interessieren. Jedes Schulkind hat seine "Lieblingsstunde" genauso wie Schulstunden, die es einfach nur "absitzt". Meistens (nicht immer) sind die Interessen in dem Bereich zu suchen, wo auch das Talent ist. Das ist beim Sport genauso wie bei intellektuellen Aufgaben. Trotzdem kann ein Kind mit Mathe-IQ 150+ langweilige Mathestunden, die weit unter seinem Niveau sind, hassen. Aber vielleicht ist es in seiner Freizeit in einem Mathe-Club, wo es im richtigen Ausmaß gefordert wird bzw. selbst bestimmen kann, was es gerade lernen/machen will.

Abgesehen von Wunsch, Höchstleistungen zu vollbringen, haben wir nur beschränkte Lebenszeit auf der Erde. Für manche Menschen mag der Wunsch, zu den besten der Welt zu zählen, riesige Motivation sein, anderen bedeutet es wenig oder gar nichts. Kaum jemand wird sich etliche Stunden seines Lebens freiwillig und unentgeltlich mit Dingen plagen, die ihn nicht interessieren, während er die wesentlichen Dinge wie Freundschaften, Spaß haben, entspannen usw. verpasst. Wenn schon Höchstleistungen bringen, dann für wen oder was? Auf unentdeckte Geheimnisse der Natur kommen wollen, weil es irrsinnig interessant ist oder täglich etliche Stunden einen eigentlich uninteressanten Gegenstand pauken damit Papa zufrieden ist? Wer wird wohl mehr Freude haben, wer wohl mehr Erfolg ;) ?
Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)
Ritzmic
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Re: Hochbegabung: Umweltfaktoren oder Genetik?

Beitrag von Ritzmic »

Ich habe es mal gewagt, diesen Thread aus der Versenkung wieder hervorzuholen, da er bei mir auf viel Interesse gestoßen ist und sich bei dazu ein paar Gedanken/Erfahrungen ergeben haben, die das eine oder andere hier aus meiner Sicht bestätigen. Dazu mal zwei konkrete Beispiele, die das Thema Genetik und Umwelt darlegen:

1) Mein Onkel (testierter IQ von 151) zeichnete und zeichnet sich Zeit seines Lebens dadurch aus, dass im alles auf Anhieb in herausragender Weise mühelos gelang - Musikinstrument zu erlernen, berufliche Inhalte zu erschließen, handwerkliche Dinge anzupacken, Kreativität in Bild und Form umzusetzen. Da er ein Scheidungskind ist und mein Opa sehr früh verstarb und er zusätzlich das Netzhäkchen meiner Oma war, lerne er nie "bei der Sache zu bleiben". Früher bezeichnete man das in der Familie gerne mit "ihm fehlte die feste Hand/Führung". Im Ergebnis schlägt er sich seit ca. 40 Jahren mit Gelegenheitsjobs (aber nie Hartz IV oder Vorgänger) durch und ist somit oftmals in der Dorfgesellschaft das negative Beispiel eines hoch intelligenten Versagers. Allerdings, und das ist sicherlich das Wichtigste, was man im Leben erreichen kann, ist er ein sehr ausgeglichener und glücklicher Mensch. Sein persönliches Glück ist seine Kenntnis über seine geistigen Möglichkeiten, die er dort nutzt, wo es ihm Spaß bereitet, während er sich aus dem grundsätzlichen gesellschaftlichen Leistungsgedanken herausgenommen hat. Im Sinne der Gesellschaft hat er somit versagt, im Sinne des Lebens und Mensch-Seins hat er alles richtig gemacht. Und auch heute noch verblüfft er sein Umfeld mit unglaublichen Projekten, die nur wenige so erdenken und umsetzen können.

2) Mein Schwiegervater (kein getester IQ aber sicherlich überdurchschnittlich intelligent): ich komme beruflich mit einer Menge unterschiedlicher Menschen aus diversen Gesellschaft-/Bildungsschichten zusammen. Doch ich muss neidlos anerkennen, dass ich noch nie jemanden getroffen habe wie ihn, der eine solche emotionale Intelligenz besitzt wie er. Alle die ihn kennenlernen sind von ihm beeindruckt. Was hat das mit dem o.a. gegebenen Thema zu tun? Er hat sich in einem Land, in dem das Lesen und Schreiben zu seiner Kinderzeit nicht jedem in unserem Maße zugänglich gemacht wurde, vor der Schule selbiges alleine beigebracht. In der Schule stach er derart hervor, dass man ihm den Zugang zum Studium ermöglichen wollte. Vor dem Hintergrund der damaligen Gegebenheiten musste er aber auf den Hof seiner Eltern zum Arbeiten zurückkehren. Er hat sich im Laufe der Zeit durch Ehrgeiz und Fleiß sehr viel erarbeitet, aber seine geistigen Fähigkeiten konnte er nie wirklich im Sinne einer klassischen Karriere umsetzen. Trotzdem glänzt er durch ein enormes Wissen und eine aus meiner Sicht extrem schnelle Auffassungsgabe.

Ich kenne noch weitere Beispiele von Menschen, die nachweislich einen hohen Intelligenzwert vorzuweisen haben, aber aus unterschiedlichsten Ausgangslagen heraus, sehr unterschiedlich erfolgreich (im Sinne der allgemeinen Gesellschaftssicht) ihr Leben gemeistert haben.

Was möchte ich damit sagen: ein hoher IQ ist sicherlich genetisch zumindest begünstigt. Doch die Umweltfaktoren bestimmen, wie bei allen anderen auch, was auf dieser Basis entstehen kann. Das Problem der heutigen Zeit ist es sicherlich, dass die Hochbegabungsdiskussion viel zu eng an einer betriebswirtschaftlichen/kapitalistischen Leistungsdiskussion angelehnt ist, sprich: hochbegabt = hohe Leistungen = erfolgreich = Geld, Ruhm, Macht, what ever...

Ich stelle mir die Frage, wie man das Ausnutzen eines hohen Begabungspotentials leistungsseitig bewerten soll? Ich tue mir irgendwie schwer mit der Anschauung "Begabung in Leistung umsetzen" bedeutet zwangsläufig in irgendeinem Bereich herausragendes zu erreichen... :?
Rabaukenmama
Dauergast
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Re: Hochbegabung: Umweltfaktoren oder Genetik?

Beitrag von Rabaukenmama »

@Ritzmic: So gesehen bin ich auch ein typischer "underarchiever" - getesteter IQ 143 und Hauptschulabschluss mit 14x "befriedigend" von 16 Gesamtnoten :mrgreen: .

Ich habe das große Glück, sowohl mein technisches Verständnis als auch meine Freude am Umgang mit Menschen (die sich erst im Erwachsenenalter richtig entwickelt hat) im technischen Verkauf ideal einsetzen zu können. Ich liebe Herausforderungen und arbeite in einer Firma, wo ich fast jeden Tag irgend ein Teil zu Gesicht bekomme, von dem ich (nach über 20 Jahren im technischen Verkauf) nicht mal weiß, was es ist. Und genau DAS (was viele Kollegen hassen) finde ich so interessant 8-) . Was ist das, wie wird es eingesetzt, wo bekomme ich es, was könnte man alternativ verwenden, wenn ich es nicht besorgen kann wo kann der Kunde es dann noch finden,... ich liebe es :) !

Vermutlich hätte ich das Zeug, in einem wesentlich besser bezahlten, anderkannteren Beruf zu arbeiten. Aber ich will gar nicht. Was andere denken interessiert mich nicht. Im echten Leben kennt kaum wer meinen IQ weil er - meiner eigenen Ansicht nach - nur einen kleinen Teil meiner Persönlichkeit zeigt, viele Mitmenschen aber dazu neigen, Hochbegabte über den IQ zu defnieren. Aber ich bin nicht "die Hochbegabte" sondern einfach eine Frau mit viel technischem Interesse und einer gewissen Hartnäckigkeit. So sehe ich mich selbst und so will ich auch gesehen werden.
Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)
Kim_S
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Re: Hochbegabung: Umweltfaktoren oder Genetik?

Beitrag von Kim_S »

Ich denke auch das viele Faktoren zusammen kommen.
Gene, Interesse, Fleiß usw. sind nur wenige davon. Alles um uns herum beeinflusst uns ja in einer weise nur merken wir vieles aus Gewohnheit nicht mehr.
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