Twochild hat geschrieben:Rabaukenmama hat geschrieben:
Beim älteren Sohn habe ich vor der Medikation ausführlich besprochen, dass WIR (mein Mann und ich) WOLLEN dass er das Medikament ausprobiert, weil wir schauen wollen, ob es ihm damit besser gelingt, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
Nachdem wir die Entscheidung zum ausprobieren getroffen hatten haben wir nachträglich nicht noch so getan, als würden wir diese unserem Sohn selbst überlassen. Da gab es keine Überzeugungsarbeit zu leisten. .
Du hast natürlich Recht, dass die Eltern die Entscheidung tragen. Ich finde es vermutlich schwierig, weil ich die Argumente meines Sohnes gut nachvollziehen kann. Er sagt, dass er erst alles andere Ausprobieren möchte bevor er Medis nimmt, die ja für schwere ADHSler sind und das sei er nicht und auserdem habe es Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit und Schlafstörungen. Er möchte zunächst Neurofeedback testen.
Ich habe nun mit ihm besprochen, dass wir morgen in einer Praxis für NFB anrufen. Da wir vermutlich erst in 4-6 Wochen einen Termin bekommen werden, kann er in der Zwischenzeit Medikamente TESTEN. Er ist damit ja nicht verpflichtet es ewig zu nehmen und wenn die negative Nebenwirkungen überwiegen sowieso nicht. Darauf konnte er sich einlassen. Mal sehen wie das ist, wenn er die erste Pille nehmen soll...
Ich zweifle vermutlich, weil ich immer wieder denke, dass es doch auch so geht.
Und schwupp, saß er heute heulend und schreiend auf dem Trampolin – es gab irgenwie Stress mit der Schwester – schlug sich selber vehement ins Gesicht begleitet von „ich bin blöd“ „ich will nicht mehr leben“ etc... Meine Tochter war total geschockt, da er das zum ersten Mal gemacht hat und wollte ihn davon abhalten, was es nur noch schlimmer gemacht hat. Er hat sich dann auf meinem Schoß recht schnell ablenken und halbwegs beruhigen lassen.
Da denke ich dann wieder, okay es muss etwas passieren.
Du hast auf meine Frage nach Leidensdruck geantwortet, dass er bei euch durchaus groß ist und die Beschreibungen deines Sohnes zeigen, dass es auch für ihn selbst so sein dürfte. Wie kommt dein Sohn übrigens darauf, dass die Medis nur für "schwere" ADHSler sind und er das nicht ist? Auch, wenn am Anfang dieses Threads noch nicht so klar war, welche ADHS-Merkmale dein Sohn hat, sind es doch mittlerweile ziemlich viele. Und es geht ja nicht darum, nur Medis zu geben, wenn jemand dem "Vollbild" (welches es bei ADHS kaum gibt) entspricht, sondern dann, wenn man sich dadurch eine Besserung der momentanen Situation erhofft. Kann es sein, dass er Diskussionen (nicht unbedingt von euch) mitbekommen hat, wo Medikamente grundsätzlich negativ dargestellt wurden? So nach dem Motto "Da werden Kinder ruhig gestellt" oder "Das sind Drogen"?
Bezüglich Nebenwirkungen muss man ohnhin ausprobieren. Das Medikament meines jüngeren Sohnes hat eine ellenlange Liste an Nebenwirkungen. Das hier sind nur die, die unter "sehr häufig" oder "häufig" fallen:
Schlaflosigkeit, Sedierung und Schläfrigkeit (Somnolenz), Parkinsonismus, Kopfschmerzen, Sturz, Ödem, Fieber (Pyrexie), Thoraxschmerzen, Kraftlosigkeit (Asthenie), Erschöpfung (Fatigue), Schmerzen, Harninkontinenz, Gelenkschmerzen (Arthralgie), Rückenschmerzen, muskuloskelettale Schmerzen, Muskelspasmen, Hautausschlag, Erythem, Bauchschmerzen, abdominale Beschwerden, Erbrechen, Übelkeit, Verstopfungen, Durchfall, Dyspepsie, Mundtrockenheit, Zahnschmerzen, Atemnot (Dyspnoe), pharyngolaryngealer Schmerz, Husten, Nasenbluten (Epistaxis), verstopfte Nase, Hypertonie, Tachykardie, verschwommenes Sehen, Bindehautentzündung (Konjunktivitis), Tremor, Dyskinesie, Schwindel, Dystonie, Akathisie, Schlafstörungen, Agitiertheit, Depression, Angst, Gewichtszunahme, gesteigerter oder verminderter Appetit, Hyperprolaktinämie, Grippe (Influenza), Ohrinfektion, Harnwegsinfektion, Nasennebenhöhleninfektion (Sinusitis), Infekte der oberen Atemwege, Bronchitis, Lungenentzündung (Pneumonie)
Wir haben das gelesen und erst mal 1 Jahr lang gar nichts davon gegeben, bis der Leidensdruck so groß war, dass wir laut einer guten Freundin "knapp vor der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus" waren, wo wir damit rechnen mussten, dass beide Kinder in ein Heim kommen. Da habe ich zu meinem Mann gesagt, dass Kinder wie mein jüngerer Sohn in einem Heim garantiert mit jeder Menge Medis "ruhig gestellt" werden und bevor es ohne Rückfrage an uns so weit kommt könnten wir es auch selbst ausprobieren. Und siehe da - unser Sohn zeigte und zeigt KEINE EINZIGE all dieser Nebenwirkungen und nicht nur die Meltdowns sind deutlich weniger geworden, unser Sohn hat auch viel mehr positives Interesse an seiner Umwelt und ist viel kommunikativer geworden. Ob das daran liegt, dass er durch die häufigen Anfälle gar nicht so aufnahmefähig sein konnte, oder an was anderem, wissen wir nicht.
Die Liste der Nebenwirkungen der MPH-Medikamente, die wir einige Zeit später beim älteren Bruder ausprobiert haben war deutlich kürzer und - im Verhältnis - harmloser. Aber er hat auf das unretardierte Ritalin gar nicht angesprochen (in langsam erhöhter Dosierung keinerlei erkennbare Wirkung, aber auch keine Nebenwirkungen) und bei "Ritalin LA" (retadiertes MPH-Produkt) hatte er so ziemlich die ganze Latte der möglichen Nebenwirkungen: extrem verringerter Appetit (hat die 2 Tage, wo wir es ausprobiert haben, jeweils 10 Stunden gar nichts essen wollen), Kopfschmerzen, Nervosität, Schlaflosigkeit, Benommenheit, Gefühl der inneren Unruhe, Depressionen in Kombi mit ständigen Gedanken ans sterben

...
Laut Lehrerin und Hortbetreuerin war mein Sohn mit diesem Medikament kaum ansprechbar, ist wie ein Zombie durch die Gegend gewandelt und hatte an nichts Interesse. Nicht mal seine geliebten Comics wollte er lesen! Mein Sohn hat genau 2 von den Tabletten genommen (jeweils morgens). Ich hätte ja schon nach dem ersten Versuch absetzen wollen, aber da wollte mein Sohn es noch einmal ausprobieren um sicher zu gehen, dass sein Zustand wirklich in Zusammenhang mit dem Medikament so schlecht gewesen ist. Naja, und der zweite Tag war eben dasselbe. Dann war Schluss mit dem Versuch!
Ich kenne übrigens einen Jungen, der auch eine Asperger-ADHS-Kombi hat und der auf das unretardierte Ritalin extrem postiv angesprochen hat . Das habe ich schon weiter vorne in diesem Thread beschrieben. Die Mutter dieses Jungen ist Kinderärztin und sie hat wirklich lange alle anderen Möglichkeiten durchprobiert, ihrem Sohn zu helfen (Sozialkompetenz-Gruppe, Schulbegleitung, viel Sport, Selbsthilfgruppe für die Eltern,...) aber das Ritalin wir für diesen Jungen wirklich das Hilfreichste, was er bekommen konnte.
Bei Medis gibt es kein grundsätzlichen GUT oder SCHLECHT - jedes Kind reagiert einfach anders daraus und man kann oft nicht vorhersehen, was hilfreich ist und was nicht. Wir hätten nach dem mißglückten Versuch mit dem Ritalin LA auch noch andere Medis ausprobieren können, wollten dann aber erst mal sehen, was für eine Wirkung das Neurofeedback hat. Und siehe da, es war "unser" Weg

. Wobei ich noch nicht weiß, was jetzt auf uns zukommt. In seiner Grundschulklasse kommt mein Sohn gut ohne Medikamente zurecht und im Moment besteht weder auf seiner noch auf unserer Seite so viel Leidensdruck, dass wir wieder was ausprobieren wollen. Aber in 3 Monaten startet das Gymnasium und keiner weiß, wie das klappen wird. Es kann sein, dass wir dann doch wieder Medis ausprobieren müssen. Aber das entscheiden wir in der Situation.
Liebe Twochild, ich bin mir ganz sicher, dass ihr eurem Sohn kein Medikament, welches ihm sichtlich mehr schadet als nützt, länger als unbedingt notwendig geben werdet! Aber ich halte es für wichtig, dass ihr (als Eltern) auch hinter der Entscheidung steht, die Medikamente auszuprobieren. Da ist nichts mit "wärst du vielleicht bereit...." oder "du könntest ja..." sondern klar "Ich glaube, dass es dir helfen KÖNNTE, daher will ICH, dass du es probehalber für ... Tage nimmst!". Wenn du merkst, dass es gar nicht geht, wirst du ohnehin sofort absetzen. Aber dein Sohn soll wissen, woran er ist, er soll wissen, dass ihr als Eltern die Verantwortung dafür tragt, und es sollt nicht jeden Tag erneut Diskussionen wegen nehmen oder nicht-nehmen geben.
Wichtig ist auch, ihm klar zu machen, dass eine mögliche positive Wirkung des Medikaments ohnehin schon vorhandene Ressourcen bei ihm verfügbar machen kann. Ich habe schon von Kindern gehört, denen es mit Medis so gut gegangen ist, dass sie diese selbst als eine Art "Doping" gesehen haben und die dann Schuldgefühle entwickelt haben, weil ihnen das Medikament subjektiv einen Vorteil gegenüber den Mitschülern verschafft hat, den sie selbst nicht "verdient" hätten. Dabei hilft das Medikament nur, einen Teil der Störfaktoren auszublenden, mit denen neurotypische Kinder ohnehin kaum Probleme haben. Das sollte sich dein Sohn bewusst sein, wenn er das Medikament ausprobiert. Auch, dass die Dosierung erst angepasst werden muss, solltet ihr alle (auch dein Sohn) wissen. Es gibt Kinder, die erzielen mit einer verhältnismäßig niedrigen Dosierung sehr gute Fortschritte, andere hingegen "brauchen" deutlich mehr, damit sich überhaupt eine Wirkung zeigen kann. Daher ist durchaus möglich, dass man an Anfang gar keinen Unterschied bemerkt, was aber nicht heißen muss, dass das Medikament gar nicht wirkt. Hier ist eine gute Begleitung durch einen Arzt oder KJP wichtig. Alles Gute

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Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)