In der Tat hatte ich dort eine Erleuchtung nach der anderen...

Dann kamen wir so ins Plaudern und letztlich war mir klar, dass es irgendwann nicht nur um meine Tochter ging, sondern auch um mich. Es ging eben auch darum, warum meine Tochter ihre Fähigkeiten verbirgt und warum sie so einen starken Hang zur Verweigerung hat. Und so nach und nach kamen immer mehr Beispiele aus meiner Vergangenheit und aus meiner Familie zum Tragen, die alle ähnlich ausgeprägt waren. Über meine Eltern, die Zeit ihres Lebens nie wirklich als ganz normale Angestellte gearbeitet haben und beide nie wirklich zu Geld gekommen sind, weil sie ihre Seele nicht verkaufen wollten. Mein Vater wollte immer Künstler/Musiker sein und hat es gehasst, dass er arbeiten gehen musste. Er hat Mathe und Physik studiert, aber auch nie abgeschlossen. Meine Mutter hat erst als Sekretärin gearbeitet und war dann ganz lange Hausfrau, bis meine Eltern sich getrennt haben. Dann hat sie angefangen zu studieren und hat dies mit Leib und Seele getan. Sie hat ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen und dann noch mit Auszeichnung promoviert. Ich habe ja schon woanders geschrieben, dass aber auch da bei ihr der Stolz über ihre eigenen Leistungen fehlte. Sie hat das für sich getan und war sozusagen zufrieden, aber mehr auch nicht. Und seitdem arbeitet sie freiberuflich. Als es ihr einmal wirtschaftlich ganz schlecht ging, hat sie dann kurzerhand ihr Auto verkauft und ist wieder Fahrrad gefahren. Sie hat für einen Freund Obst und Gemüse auf dem Wochenmarkt verkauft und ist darin voll aufgegangen. Bis dann die ersten Aufträge wieder reinkamen. Sie wird jetzt bald 60 und hat nie wirklich richtig als Angestellte gearbeitet, jedenfalls nicht so lange ich sie kenne. Das Höchste war ihr Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Uni. Natürlich weiß ich jetzt, dass das natürlich auch damit zusammenhing, dass sie alleine zwei Kinder zu versorgen hatte und natürlich auch nicht so flexibel war.
Meine Eltern haben mir immer vermittelt, dass man sich nicht zu sehr anpassen und unterordnen darf, weil sonst die Seele daran Schaden nimmt. Allerdings haben sie auch vergessen mir beizubringen, wie man mit den daraus resulitierenden Konflikten umgeht. So ein Leben, wie sie es führten, war mir zu anstrengend und zu unsicher, ich wollte Geld verdienen und von 8 bis 5 Uhr arbeiten. Und ich wollte am Ende des Monats immer das Gleiche auf dem Konto haben. Als ich kurz vor dem Abi war, wurde ja viel darüber geredet, was wir mal werden wollen. Ich hatte mir so überlegt, dass ich gerne Beamtin werden wollte, am liebsten Rechtspflegerin beim Gericht. Aber dann wurde ich von allen Seiten bearbeitet, dass ich doch bitte gleich Jura studieren soll und doch besser gleich Richterin werden sollte. Also habe ich mich anständig bei der ZVS um einen Studienplatz beworben und auch einen bekommen und dann die erste richtig große Krise meines Lebens bekommen - mit zarten 19 Jahren. Ich habe dieses Studium nicht angetreten und brauchte 1 Jahr, bis ich vernünftig wurde und mich nochmals beworben habe und dann auch ein Jurastudium begonnen habe. Was soll ich sagen?! Es ging einfach nicht. Ich habe davon sämtliche psychosomatische Beschwerden bekommen, die man sich nur vorstellen kann. Dann habe ich meinen damaligen Freund und heutigen Mann kennengelernt und zum ersten Mal gesagt:"Ich möchte da nicht mehr hin." Aber er hat natürlich auch gesagt, dass ich aber ja irgendwas mit meinem Leben anfangen muss. Also habe ich mich einem Riesenaufwand dafür gesorgt, dass ich das Studium abbrechen kann, aber mittels eines Gutachtens meinen BaföG-Anspruch noch erhalten kann (Studienwechsel aus einem wichtigen Grund). Ich bin dann wieder zurück nach Hause gezogen (allerdings in eine eigenen Wohnung) und habe mich für Politik und Soziologie eingeschrieben. In diesem Studium fehlte der Leistungsdruck und das Elitäre des Jurastudiums, aber meine Probleme waren letztlich die gleichen: Ich verstand nicht, was die von mir wollten.
Ich hatte keinerlei Gefühl dafür, welche Ansprüche an mich gestellt wurden und ob ich gut war, in dem, was ich dort an Leistung ablieferte. Jedesmal, wenn ich eine Klausur schrieb oder ein Referat hielt, wusste ich nicht, wie genau ich mich darauf vorbereiten sollte und habe sicherheitshalber praktisch alle Informationen zusammengetragen, die ich kriegen konnte. Ich war dann trotzdem jedesmal überrascht, wenn ich bestanden habe. Bei den Hausarbeiten hat mich dieser Perfektionismus eingeholt. Ich habe zwei Hausarbeiten noch in der Schublade liegen, die eigentlich fertig waren, die ich aber nie abgegeben habe. Sie haben mir finanziell das Genick gebrochen, weil mir dadurch zwei Scheine fehlten und ich mich nicht zum Vordiplom anmelden konnte. Und somit wurde mein BaföG-Anspruch eingefroren. Ich wusste, dass das passieren würde, aber ich konnte nicht aus meiner Haut. Ich hatte fürchterliche Angst, mich mit diesen Hausarbeiten zu blamieren. Ich habe sie aber auch nie aus der Hand gegeben, damit jemand anders sie gegenliest. Später habe ich mal diese Arbeit meiner Mutter gezeigt und sie hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mir erklärt, dass das meine Diplomarbeit hätte sein können, aber doch keine Semesterarbeit! Sie sagte: Kein Mensch hat für eine einfache Semsterarbeit eine Literaturliste über 2 DIN-A-4-Seiten!

Und somit hatte ich dann irgendwann zwei Jobs, einen vormittags bei der Zeitung und einen stundenweise beim Rechtsanwalt. Das fand ich beruhigend, das konnte ich und ich hatte am Ende des Monats Geld auf dem Konto. In die Uni bin ich dann immer seltener gegangen, vor allem weil mein Kommilitionen dann alle über das Vordiplom sprachen und ich den Anschluss verloren hatte.
Und so bin ich dann auf die Idee gekommen, eine Ausbildung als Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte zu machen, einfach nur, damit ich endlich mal einen Abschluss in der Tasche habe. Ich konnte ja nicht ahnen, dass das so schwierig ist. Denn da musste ich mich anpassen, bis ich nicht mehr wusste, ob ich Fisch oder Fleisch bin. Und ALLE haben gesagt: Das hält sie nie im Leben durch!!

Dann wurde es schwanger und es folgte Babypause I und II. Jetzt sind wir ja umgesiedelt und ich muss sowieso neu anfangen. Und jetzt kam das Treffen und die Gastgeberin fragte mich dann:"Du willst doch nicht wirklich wieder als Rechtsanwaltsgehilfin arbeiten?!" Da wir unter uns waren, habe ich ganz ehrlich geantwortet:"Ich habe das Gefühl, ich bin sogar damit noch überfordert!"
Und dann kam der HAMMER von der Gastgeberin, die ganz offensichtlich ein Genie ist:"So, und jetzt frag dich mal selbst, warum deine Tochter immer vor sich selber wegläuft..."
