Meine Mutter hat sich darüber lustig gemacht, dass ich so stark in Kategorien denke und meinte ganz platt:"Wenn du bis heute noch nicht gemerkt hast, dass du intelligenter bist als fast alle anderen auf diesem Planeten, dann kann ich dir auch nicht helfen!" Wenn ich was von Amelie erzähle, wo ich denke, dass es besonders krass und erwähnenswert ist, sagt sie immer:"Von wem sie das wohl hat?!" Oder sie erzählt Anekdoten von früher, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, aber die mit Abstand betrachtet ziemlich gut zu mir passen. Sie hat erzählt, dass sie uns öfter in die Uni mitgenommen hat. Einmal war sie mit uns in einer Filmvorführung in der Aula. Es gaben einen Film auf Italienisch original mit Untertiteln und ich war auf jeden Fall noch nicht in der Schule und konnte entsprechend auch noch nicht lesen. Meine Schwester hat den Kinosaal erkundschaftet und hat Leute angequatscht und ausgefragt. Ich dagegen habe den Film reglos und mit offenem Mund in mich aufgesogen. Ich habe auch noch Erinnerung daran, nämlich dass es von einem sehr armen Mann handelte, dem dann auch noch sein Fahrrad gestohlen worden ist. Diese Verzweiflung kann ich heute noch fühlen. Es hat mich sehr beschäftigt und ich habe dann noch ewig und drei Tage Fragen dazu gestellt.
Naja, und dann sind ja auch heute noch Sachen übrig geblieben. Mein Mann nennt mich immer "Queen of half sentences" und meine Mutter ruft immer "Auszeit, Auszeit!", wenn ich mal mitten im Satz mal kurz was überlegen muss und dann kurz abtauche. Manchmal ist sie auch gemein zu mir, wenn ich ihr irgendwas ausufernd erzählen möchte, was ich gelesen oder im Fernsehen gesehen habe. Dann sagt sie zu mir oder über mich, ich hätte "Sprechdurchfall" und ob es mir was ausmachen würde, wenn sie sich zwischendurch mal einen Kaffee macht.
Es ist so eine Mischung zwischen Selbstverständlichkeit gepaart mit ein bisschen Stolz und dann auch wieder Abwertung und Verständnislosikgkeit.
Bis heute ist es noch so, dass ich immer bei ihr im Bücherregal stöbern gehe, was sie so für neue Bücher hat und mich immer wieder irgendwo lesend in einer Ecke wiederfinde. Das nervt meine Mutter meistens sehr, weil ich dann oft nicht mehr ansprechbar bin. Besonders jetzt, wo ich mit meinen Kindern einfalle, kriege ich ja dann auch nicht mehr mit, wenn meine Kinder die Wohnung auseinandernehmen. Manchmal sagt sie mir auch, ich soll den Kaffeetisch decken und dann bleibe ich am Bücherregal hängen und vergesse, wieder in die Küche zu kommen. Dann schreit meine Mutter mich an, mein Mann lacht sich kaputt, die Kinder erschrecken sich. Aber ich muss dann meistens über mich selber lachen und dann sind die Kinder auch ganz erleichtert, weil sie es auch richtig cool finden, dass auch die Mama mal Ärger von ihrer Mama kriegt.
Ich bin auch nie getestet worden, weil meine Schwester schon ein "Problemkind" war und meine Mutter einfach froh war, dass ich in der Schule keine (Leistungs-) Schwierigkeiten hatte. Gut, sie musste antreten, weil ich nach dem Umzug in der Grundschule ein halbes Jahr keinen Anschluss gefunden habe. Auf dem Gymnasium hatte ich mal eine Phase, wo ich ganz schlimme psychosomatische Bauchschmerzen hatte. Organisch war alles in Ordnung und ich bekam dann ein Gesprächstherapie und Autogenes Training. Der Psychologe hat meiner Mutter auch noch gesagt, dass sie mich nicht so unter Leistungsdruck setzen soll, woraufhin sie aus allen Wolken gefallen ist. Das war in einem Alter, wo meine Mutter gar nicht mehr gefragt hat, ob ich meine Hausaufgaben schon gemacht habe, geschweige denn, dass sie sie kontrolliert hat. Sie hat gesagt, wenn du eine Frage hast, kannst du immer zu mir kommen, aber ich vertraue dir, dass du deine Hausaufgaben selbstständig erledigst. Ich habe sie mal gefragt, ob ich mir aussuchen kann, wann ich die Hausaufgaben mache und dann habe ich sie aus dem Mittagstief heraus auf die frühen Abendstunden verlagert. Sie hat auch gesagt, dass sie mich nie zu den Hausaufgaben zwingen musste, ganz im Gegensatz zu meiner Schwester. Deswegen sagt sie mir auch heute, dass ich wegen Amelie bloß nicht in Aktionismus verfallen soll.
"Entschuldigung, ich habe nur kurz fantasiert." meine große Tochter, 4 Jahre alt (inzwischen 9 geworden)