Hallo Hope,
mein älterer Sohn ist Asperger Autist mit ADHS und einigen Inselbegabungen, mein jüngerer Sohn ist gehörlos und frühkindlicher Autist mit anderen Inselbegabungen

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Während wir beim jüngeren Sohn die Diagnosen schon recht früh hatten (Gehörlosigkeit mit 3 Monaten, Autismus mit 4 Jahren) war mein älterer Sohn für mich immer das "normale" Kind. Ehrlich gestanden wollte ich nicht wahrhaben, dass er AUCH nicht ganz neurotypisch ist, obwohl mir der Kindergarten das schon sehr wertschätzend und wohlwollend rüberbringen wollte, als er gerade mal 4 Jahre alt war.
Leider waren wir damals bei der Entwicklungsdiagnostik bei einer absolut unfähigen Psychologin (in einem SPZ

). Und obwohl mir von der ersten Begegnung an klar war, dass diese Frau total neben sich steht, habe ich ihr gerne geglaubt, als sie nach 5 Minuten mit meinem Sohn Autismus und ADHS kategorisch ausgeschlossen hat.
So war er noch ein 3jähriger Weg, bis mein Sohn erst mal die Asperger Autismus Diagnose bekam (mit 7 Jahren) und dann ein Jahr später noch die ADHS-Diagnose dazukam. Und es war leider häufig so, dass sein Verhalten auf "zu lasche" Erziehung geschoben wurde. Tatsächlich bin ich zwar sicher eine Mutter, die ihren Kindern viele Freiheiten lässt, aber ich bin (und war auch schon früher) immer sehr klar in meinen Aussagen und absolut nicht so weich, dass mir meine Kinder auf der Nase rumtanzen könnten

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Am meisten hat mich geärgert, wenn mir wer Inkonsequenz vorgeworfen hat, denn ich kenne kaum einen konsequenteren Menschen als mich. Während andere Eltern locker mal "ausnahmsweise" ein Stück Schokolade hergeben oder länger Tablett spielen erlauben können, gab es so was früher bei mir überhaupt nicht. Ich wusste, dass vor allem mein jüngerer Sohn jegliches Zugeständnis meinerseits schamlos ausnutzt und mit aller Gewalt immer und immer wieder einfordern wird. Mittlerweile ist die Situation nicht mehr so extrem wie früher, ich halte mich aber immer noch für durchaus konsequent. Nur bin ich draufgekommen, dass andere Leute mit "Konsequenzen" normalerweise Strafen meinen, und die lehne ich ab.
Vor allem bestrafe ich nicht für Verhaltensweisen, die auf Grund der Wahrnehmungsbesonderheiten meiner Kinder auftreten. Bei meinem jüngeren Sohn sind das autistische Wutanfälle (Meltdowns), wo er 20 bis 45 Minuten wirklich "außer sich" vor Wut ist und wo nichts und niemand ihn beruhigen kann. Der Auslöser ist oft nichtig und für Leute, die keine Ahnung davon haben, absolut unverständlich. Aber wenn der Meltdown mal da ist gibt es kein ZURÜCK mehr. Ich brauche nichts gebärden (sagen sowieso nicht

), nicht trösten, nicht hochnehmen (in beiden Fällen würde mein Sohn mich mit aller Gewalt abwehren, treten, schlagen,...) sondern ich muß nur aufpassen, dass er sich nicht selbst verletzt. Für Außenstehende muss das sehr seltsam aussehen und ich habe oft schon kluge Tipps oder geringschätzige Blicke bekommen. Manche glaubte, mein Sohn würde schon parieren, wenn ich ihn nur oft genug schlagen würde, andere haben nicht verstanden, warum ich das "arme Kind" nicht tröste, wieder andere, warum ich nicht schimpfe (bei einem gehörlosen Kind

)... Wie sehr mein Sohn selbst unter diesen Anfällen leidet, habe ich gemerkt, als er WÄHREND er geweint und gebrüllt hat, immer wieder gebärdet hat "Ich mag nicht weinen! Ich mag nicht schreien!". Da war mir klar, dass es eben KEIN normaler, kindlicher Wutanfall ist, sondern dass mein Sohn ab einer gewissen Grenze einfach keinen Einfluß mehr darauf hat, wie er sich verhält.
Mittlerweile erkenne ich einige Vorzeichen dieser Meltdowns und es gelingt mir immer häufiger, durch entschärfen der Situation die totale Eskalation zu vermeiden. Sohnemann bekommt außerdem ein Medikament, welches sicher auch zur Besserung der Gesamtsituation beiträgt. Aber wenn mein Sohn doch wieder mal einen solchen Anfall hat, werde ich ihn definitiv NICHT dafür bestrafen. Ih bestrafe schließlich auch kein gelähmtes Kind dafür, dass es einen Rollstuhl benötigt.
Ich musste wirklich mühsam lernen, meine Kinder (vor allem meinen älteren Sohn) SELBST so zu nehmen, wie sie eben sind, und mein Idealbild von einer Familie, wie ich sie gerne hätte, ersatzlos löschen. Beim jüngeren Sohn war es auf Grund der Sinnesbehinderung einfacher. Wenn Außenstehende mitbekommen, dass ein Kind gehörlos ist, hat es praktisch Narrenfreiheit. Und man wird als Mutter sofort bedauert und hört so Sachen wie "Das arme, arme Kind! Was soll nur aus dem werden?". Manchmal bekommt man auch Tipps, dass es ja "so Dinger" gibt, die man in den Kopf einpflanzen kann, wo gehörlose Kinder dann plötzlich hören können. Tja, und wenn ich erwähne dass mein Sohn die Wunderteile schon seit 6 Jahren im Kopf hat, sie aber bei ihm nichts bringen, werden wir noch mehr bedauert. Das ist auch einer der Gründe, warum ich selten die Gehörlosigkeit erwähne oder thematisiere.
Bei einem hörenden Autisten oder ADHS-Kind schaut die Sache schon wieder ganz anders aus. Da werden selbst gesicherte Diagnosen von Außenstehenden oft angezweifelt und es wird vermutet, dass es ja doch nur an der Erziehung liegen kann. Denn ADHS gibt es ja gar nicht, die Kinder sitzen heute nur viel zu viel vor dem Fernseher und spielen zu viele elektronische Spiele, sie ernähren sich außerdem falsch und bewegen sich zu wenig! Und die Pharmaindustrie pumpt sie mit Medikamenten voll, um mit ihnen ein Geschäft zu machen, wo doch in Wirklichkeit die unfähigen Eltern an allem "schuld" sind

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Es war ein harter Lernprozess zu meinen Kindern zu stehen, trotz ihrer Besonderheiten. Dass ich mir auch eine dicke Haut was die Kommentare "von außen" betraf, zulegen musste, war nur ein Teil dieses Prozesses. Ich habe mich vor allem bei meinem älteren Sohn immer wieder selbst dabei ertappt, wie ich von ihm Dinge erwartet habe, die er einfach auf Grund seiner Behinderng (noch) nicht schafft.
Liebe Hope, ich verstehe deine Schwierigkeiten, anzunehmen, dass dein Sohn nicht "normal" ist. Das geht auch nicht von heute auf morgen. Aber er ist jetzt nicht von einem Tag auf den anderen ein anderer Mensch, nur weil er vielleicht eine Wahrnehmungsstörung diagnostiziert bekommt. So, wie lernschwache Kinder eben gaaaanz viel üben müssen, um sich alle Buchstaben des ABCs zu merken, so müssen Autisten eben viel üben, um mit ganz normalen, sozialen Situationen zurecht zu kommen.
Gras wächst eben nicht schneller, wenn man daran zieht. Und was die Zukunft "irgendwann einmal" betrifft, so habe ich schon durch meinen jüngeren Sohn gelernt, nur im HEUTE zu leben und mir keinen großen Kopf um spätere Selbstständigkeit, Arbeitsplatz, Beziehungen, Freundschaften usw. zu machen. Das sind alles Dinge, auf die ich ohnehin keinen Einfluß habe. Und auch bei einem komplett "nomalen" Kind ist eine glückliche, gesicherte Zukunft nicht selbstverständlich. Ein einziges Ereignis (z.B. ein Unfall) kann alles binnen Sekunden ändern.
Im Gegensatz dazu kannst du, wenn mal eine klare Diagnose da ist, durch angepasstes Verhalten sehr viel zum positiven bewirken. Du hast es selbst schon in den letzten Tagen bemerkt, wo du bewusst anders mit deinem Sohn gesprochen hast als bisher - und er hat es als positiv empfunden. Es gibt viele Dinge, die man innerhalb der Familie tun kann, um einem Autisten das Leben zu erleichtern. Es braucht natürlich seine Zeit, herauszufinden, was das für Dinge sind und es braucht auch seine Zeit, sich mit der "neuen" Situation zu arrangieren. Aber mittlerweile denke ich, dass es viiiiiiel schlimmere Dinge gibt, als autistische Kinder zu haben. Und ich weiß, wovon ich spreche

. Alles Gute und wenn du Fragen hast, gerne hier oder per PN

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Der liebe Gott schenkt uns die Nüsse, aber er knackt sie nicht (Johann Wolfgang von Goethe)