Manchmal habe ich das Gefühl, dass es auch daran liegt, dass zu viele Informationen zur Verfügung stehen, vor allem durch das Internet, aber dass viele Eltern einfach damit überfordert sind, diese Informationen richtig zu deuten. Denn vielfach kommt auch eben darauf an, dass man bestimmte Begriffe auch richtig im Zusammenhang verstehen muss.
Ich hatte das neulich, als es um das Thema Sprache ging. Es ging darum, ob bei einem Kind, was undeutlich sprach, eine logopädische Unterstützung helfen könnte. Und es ging auch darum, dass es zum Beispiel im Kindergartenalter für das Stottern verschiedene Gründe geben kann. Da war dann die Frage, ob es sich um eine Sprachentwicklungsverzögerung oder um eine wirkliche Sprachstörung handelt. Es gibt da so Spezialisten, einfach behaupten:"Das verwächst sich!" Es gibt eine häufig vorkommende vorübergehende Stotterphase, die bei vielen Kindern im Kindergartenalter vorkommt und die dann wirklich über Nacht vorbei sein kann. Das wäre dann überhaupt kein Grund zur Besorgnis. Auf der anderen Seite kann aber eine wirkliche Sprachstörung auch von Dauer sein und eben nur durch therapeutische Behandlung und/oder Logopädie wieder "geheilt" werden. In seltenen Fällen hat es eben auch seelische Gründe, wobei auch schon die Geburt eines Geschwisterkindes die Kinder dazu bringen kann, dass es sein bereits erworbenen Sprachfähigkeiten unterwegs verloren zu haben scheint. Das zu erkennen ist für einen Laien unglaublich schwierig. Ist es jetzt eine krankhafte Störung, steht das Kind kurz vorm nächsten Entwicklungsprung oder ist es ein schon fast normaler Teil der Entwicklung?
Jedenfalls wurde dieser besagten Mutter bereits bei der U 8 nahegelegt, sie möge bitte wegen der Sprache ihres Kindes eine logopädische Praxis zu Rate ziehen, die Entwicklung sei bedenklich. Darauf hin hat die Mutter entschieden, dass es eine Unverschämtheit vom Kinderarzt wäre zu behaupten, dass das Kind nicht richtig sprechen könne. Es wäre doch so intelligent und könne "besser" sprechen als andere. Sie meinte ebenfalls, dass es reichen müsste, dass das Kind sich noch "entwickeln und mehr zutrauen" müsste. Zwischendurch kam auch noch der Spruch:"Mein Kind denkt halt schneller, als es sprechen kann. Das liegt an der Mundmotorik und das ist ja oft bei intelligenten Kindern so, dass die Motorik noch nicht so richtig ausgeprägt ist."
Nun sind ein paar Monate nach dem 4. Geburtstag vergangen und dann hat sich auch der Kindergarten ein Herz gefasst, die sprachliche Entwicklung zum Thema zu machen. Sie erzählte mir unter Tränen von diesem Elterngespräch und meinte:"Die tun alle so, als ob mein Kind BEHINDERT wäre..." Am Ende hat sie dann doch die Logopädie-Praxis aufgesucht und da hat man dann die Diagnose gestellt, dass die Sprachfähigkeit (Mundmotorik, Wortschatz usw.) wohl vorhanden wäre und dass man eben den Verdacht hat, dass sich aber die Sprache auf Grund eine psychischen Überforderungssituation nicht weiterentwickelt hat.
Die Überforderungssituation war folgende: Das Kind kam mit noch nicht 3 Jahren als Kann-Kind in den Kindergarten. Es hatte große Probleme sich von den Eltern zu lösen, woraufhin der Kindergarten dazu riet, das Kind wieder aus dem Kindergarten herauszunehmen und/oder als Schnupperkind zweimal die Woche zu bringen oder es ganz zuhause zu lassen. Darüber haben sich die Eltern mit dem Kindergarten zerstritten, weil man eben meinte, dass das Kind auf Grund seiner Intelligenz die Förderung im Kindergarten bräuchte. Man hat also den Kindergarten gewechselt und bei uns im Kindergarten gleich als "hochbegabt mit entsprechendem Förderungsbedarf" angemeldet. Die Erwartungen der Erzieherinnen war entsprechend hoch. Und dennoch spricht das Kind aktuell nur in Dreiwortsätzen. Und seit ca. 1 Jahr kommt nun auch noch das Stottern dazu. Ich kenne das Kind auch noch vom Kinderturnen und man kann schon hören, dass es im Kindergarten besonders heftig zu kämpfen hat.
An diesem Beispiel finde ich kann man sehr schön sehen, was es auch ausmacht, wenn Eltern, auch sehr informierte und liebevolle Eltern, ihre Sachkenntnis in bestimmten Bereichen überschätzen und über die Meinung der Fachleute stellen. Denn es besteht ja immer die Gefahr, dass man nicht objektiv denkt. Vielfach lässt einen auch die eigene Angst Dinge übersehen und überlesen, die man nicht wahrhaben möchte.
Das Traurige ist, hätte man das Kind ganz normal mit 3 Jahren und ohne den Hinweis, dass es hochbegabt ist, in den Kindergarten gebracht, würde das Kind wahrscheinlich ganz normal sprechen, so wie es sich vor dem Kindergarten auch angedeutet hat. Fatal ist eben auch die Annahme, dass alle hochbegabten Kinder motorische Defizite aufweisen und dass man daraus die Selbstverständlichkeit ableitet, dass ein Kind mit solchen Defiziten keine Hilfe braucht. Und man darf eben nicht vergessen, dass auch hochbegabte und intellektuell weit entwickelte Kinder immer noch kleine Kinder sind, die verschiedenste Ängste haben.
So erging es uns ja auch, als uns dann gesagt wurde: Ihr Kind ist sehr intelligent, aber es braucht trotzdem Ergotherapie. Man hat uns knalllhart ins Gesicht gesagt, dass A. auch später noch Probleme mit der Feinmortorik haben wird, weil sie natürlich alles vermeiden wird, was ihr schwer fällt. Sie hat z. B. die ersten vier Jahre ihres Lebens nie irgendwas mit der Schere geschnitten. Sie konnte es nicht und wollte es dann auch nicht mehr probieren. Bei der Ergo hat sie es dann gelernt. Anfangs waren wir von der Ergo auch nicht begeistert, aber in Nachhinein sind wir froh, dass wir sie hatten.
Irgendwie bewegt sich das im Moment scheinbar in so Extremen zwischen behindert, defizitär auf der einen Seite und dann eben hochbegabt auf der anderen Seite. Aber die meisten Kinder befinden sich eben immer noch irgendwo dazwischen und nicht am Rand. Und ob irgendwas nun krankhaft oder behandlungsbedürftig ist, das könne Eltern in der Regel doch gar nicht abschätzen (das ist jedenfalls meine Meinung). Und ebenso können die meisten Eltern zwischen Langeweile und Unterforderung nicht unterscheiden. Alle Kinder langweilen sich ab und zu mal, nur wenige sind wirklich unterfordert. Und trotzdem wird der Begriff "unterfordert" wirklich inflationär eingesetzt.
"Entschuldigung, ich habe nur kurz fantasiert." meine große Tochter, 4 Jahre alt (inzwischen 9 geworden)